Buchcover von Wege zum NeinDas Buchprojekt „Wege zum Nein. Emanzipative Sexualitäten und queer-feministische Visionen. Beiträge für eine radikale Debatte nach der Sexualstrafrechtsreform in Deutschland 2016“ (256 Seiten, 14.00 EUR), herausgegeben von Sina Holst und Johanna Montanari, das 2017 im assemblage Verlag erschienen ist, folgt dem Anliegen weitere Gespräche, Debatten und Auseinandersetzungen nach der Sexualstrafrechtsform zu fördern und herauszufordern.* Dem Thema nähern sich die Herausgeber_innen und eingeladenen Autor_innen in insgesamt 13 Beiträgen aus verschiedenen Perspektiven.
Die einzelnen Texte sind zehn verschiedenen Schwerpunktsetzungen zugeordnet und zusätzlich am Ende jedes Textes finden sich noch Vorschläge für weitere Vertiefungen innerhalb des Buches. Diese Form der Strukturierung ist Ergebnis des Versuches der beiden Herausgeber_Innen zur Interaktion mit dem Buch anzuregen und das klassische lineare Lesen und Steckenbleiben zu durchbrechen, wie sie in ihrer Einleitung – in Anlehnung an „Yes means Yes!“ von Valenti und Friedman (2008) – ausführen. Ich möchte deswegen in meiner Rezension meine Route durch das Buch skizzieren und Leseeindrücke schildern.

Mein Weg durch „Wege zum Nein“

Das VorWort gestalten die Herausgeber_innen als Ein_ladung und bemerkenswerterweise bewirkt das, mich in eine Ja_ Stimmung zu versetzen.
Für eine Auseinandersetzung braucht es Offenheit und gerade bei der Beschäftigung mit Sexualität, Grenzüberschreitung, Strafrecht besteht ein großes Risiko nicht offen zu sein, zumindest merke ich das bei mir. Die Ein_ladung statt Einleitung ist unerwartet und reißt mich so auch aus meiner Abwehr heraus. Ich werde offen und bin bereit mich auf diese Reise durch dieses Buch zu machen, obwohl und trotzdem ich genau weiß, um die Brisanz der Inhalte auch für mich persönlich. Die kurze, knappe Positionierung seitens der Herausgeber_innen zur Verwendung der Begriffe sexualisierte Gewalt/ sexuelle Gewalt vermittelt mir ein sicheres Gefühl, gerade weil ich schon oft erlebt habe, dass die Begrifflichkeiten unklar verwendet wurden und mein Bedürfnis nach einem aufmerksamen Umgang damit, mit der beschämenden Zuweisung von „übertriebener Kleinlichkeit“ abgetan wurde. Anliegen des Textes werden klar formuliert. Es will Ressource sein, eigenes Denken ernst zu nehmen, und anregen mit den Texten in Interaktion zu gehen: Ich bin gespannt.
Das, was in der Ein_ladung gelungen ist, wird für mich abgeschwächt durch die nun folgende fast wie eine Anleitung anmutende Gebrauchsanweisung. Ich dachte ich kann machen, was ich will – Yeah! Und jetzt dann doch nicht?

Es kommt eine Art zweites Inhaltsverzeichnis im Fließtext. Die 10 Themenkomplexe werden vorgestellt und die Textbeiträge werden diesen zugeordnet und jeweils kurz zusammengefasst. Die Texte tauchen mehrmals und unter verschiedenen „Überschriften“ auf- das soll darauf verweisen, dass es immer verschiedene Blickachsen gibt, verwirrt mich aber auch. Es gibt vorab eine Zusammenfassung der Kernthesen der Beiträge – das hätte ich mir wenn, dann eher am Ende gewünscht, aber nicht im Voraus- es nimmt mir die Spannung, Lust am eigenen Erkunden und dem Finden meiner eigenen Position im Neine-Wald. Die Punkte, die als Essenz der einzelnen Beiträge genannt werden, stimmen auch nicht unbedingt mit dem überein, was das Wesentliche der Texte für mich jeweils ausmacht oder ausmachen könnte. Die kurze Vorstellung der Themenkomplexe hätte mir voll gereicht, in Kombination mit den Untertiteln der Texte, die mir persönlich schon genug weitergehende Orientierungshilfe boten, hätte ich mich aufgehoben gefühlt und orientiert aber nicht gelenkt und trotzdem konfus. Ich schwenke also nochmal kurz zur Ein_ladung vor… und ab dann lese ich einfach wie´s mir ist – und dann gelingt es mir mich mit den Texten zu bewegen.

Ich steige ein mit Debbie Taudts „Ja sagen! Aber zu was, wenn es keine Worte gibt?“. Mir hat zunächst gleich gefallen, dass der Text eine Verknüpfung herstellt zum Ja-Sagen. Der Text eröffnet Raum von einem Ja aus loszugehen. Im Fokus steht der Wille, eigenes sexuelles Begehren positiv zu bezeichnen, neue Worte zu bauen und von hier aus auch benennen zu können, wozu nicht ja gesagt wird. Ich mochte außerdem auch die kurze und sehr prägnante Darstellung der Geschichte des Ausschlusses der weiblichen Sexualität. Vom Wort der Masturbation und onanieren geht es zu den lexikalischen Ursprüngen, zu Freud und seinen sexistischen Fehldeutungen und von hier zur Gegenwart, in der in Kinderaufklärungsbüchern keine Hinweise auf die Klitoris und die Bedeutung beim Sex zu finden sind und bei gängigen Rechtschreibprogrammen Worte wie klitoral schlichtweg gar nicht existieren. Das Ergebnis ist, dass Penetration nahegelegt wird und andere Formen der Sexualität ausgeschlossen werden.
Der Text ist nach dem Lesen bei mir geblieben und in meinen Alltag gekommen, indem er mich dazu anregte, länger über mein eigenes Begehren und mögliche Worte dafür nachzudenken: Mal in der U Bahn sitzend in meinem Kopf neue Worte zur Masturbation schöpfen. Aber auch das Wort klittern, eine Wortkreation aus Klitoris und Glitzern, das die Autor_in aus Schweden mitbringt, gefällt mir sehr und hat einen Platz in meinem aktuellen Sprachgebrauch gefunden.
Am Ende des Textes fanden sich dann Hinweise auf weitere Themen, die ich weiterverfolgen kann. Mich spricht „Wenn die Sexualassistenz meine Grenze überschreitet“ irgendwie an; ich habe Lust dieser Spur zu folgen.
In diesem kurzen Text von Katja Alekseev schildert Katja die Rolle der Sexualassistenz für eine selbstbestimmte Sexualität und beschreibt eine erlebte Grenzüberschreitung in diesem Kontext. Der Text hat mich durch die radikale Berührtheit beeindruckt. Katjas Offenheit zu erleben hatte etwas total Bestärkendes für mich. In der Schilderung einer Interaktion mit der Sexualassistenz kam es zu bestimmten Aktionen, die ich aus meiner ablesierten Perspektive heraus als extrem intim empfinde und für mich selbst vermutlich als grenzüberschreitend erleben würde; aber Katja empfand etwas völlig anderes als grenzüberschreitend. Damit hat der Text mich vor allem an die Subjektivität des Erfahrens von Grenzen erinnert und mir noch einmal vor Augen geführt: So etwas wie eine objektive Grenze kann es gar nicht geben. Eine Überschreitung wird immer von der Person, der sie wiederfährt als solche benannt.
In der Form ging es dann weiter durch das Buch, so ein wenig springend, mal hier mal da etwas lesend.
Was hier flüssig, spielerisch als Leseweg skizziert wird, zog sich über einen längeren Zeitraum. Die vielen Texte mit den hierin angesprochenen Aspekten lösten in mir auch oft Bezüge zu eigenen Erfahrungen und damit Trauer, Wut, Stress und Unsicherheiten aus, manchmal war es schön, nicht alleine zu sein, während des Lesens und die unterstützende Anwesenheit einer vertrauten Person an der Seite zu haben.
Der Text von Nello Fragner Notizen zu m_einem Nein beschäftigt sich mit der Verschränkung von Privilegien und Gewalterfahrungen und Möglichkeiten des Umgangs damit. Der Text besteht aus sieben Abschnitten, die zusammengefasst eigene sexualisierte Gewalterfahrungen thematisieren, sie in Bezug zu patriarchalen Strukturen setzen und Auswirkungen benennen. Durch die fragmentarische Strukturierung des Textes werden verschiedene Aspekte sichtbar und es gibt Innenansichten und Teile, die aus einer reflektierenden, mehr beobachtenden Perspektive auf das Erlebte schauen. In mir entsteht das Bild einer Linse: ganz nah heranzoomen, und wieder heraus. Diese unterschiedlichen Blicke auf Erlebtes gefallen mir. Nello macht auf die teils tiefgreifenden Konsequenzen, die das Aussprechen und Sichtbarmachen erlebter Gewalterfahrung haben kann und die über das Ereignis selbst hinaus reichen, aufmerksam.
Auf eindrückliche Weise macht Nellos Text für mich daher die Bedeutung solcher Buchprojekte wie „Wege zum Nein“ sichtbar und macht mir Mut mich mit anderen zu verbinden in allem was da ist: der Trauer der Wut und der Kraft.

Es gibt viele Wege durch dieses Buch zu gehen. Ich habe mich besonders an die erfahrungsbasierten Texte gehalten, aber das Buch bietet noch viel mehr, enthält Texte zu juristischen, aktivistischen Aspekten und nicht zuletzt auch theoretische Texte. Vor allem durch diese Mischung kommt für mich die Stärke dieses Buches zum Ausdruck, weil es sich dem „Widerspruch, dass sexuelle Gewalt meinen eigenen Körper betrifft und gleichzeitig nichts mit mir persönlich zu tun hat“ ,wie es Sina Holst in dem Text „Sprechende Bilder, Widerstand und Spucke“ benennt, stellt. Mit all den verschiedenen Facetten inklusive Unsicherheiten, wird das Buch zu einem Gegenüber – entschieden, hörbar und stark. Es bleibt immer deutlich in der Überzeugung, das eigene Leben politisch zu begreifen und die gesellschaftlichen Kämpfe in persönlichen Auseinandersetzungen und Erfahrungen ernst zu nehmen. Was mir etwas gefehlt hat, ist eine Art Rausbegleitung aus dem Buch. Die Beiträge verzahnen und verknüpfen sich in ihrer Unterschiedlichkeit sehr organisch – genau deshalb hätte mir am Ende des Buches die Zusammenfassung der Kernthesen gut gefallen, um mich zu ordnen, wie nach einer Reise eben, wenn wir, Gefundenes und Erfahrenes sortieren und dafür einen Platz in unserem Alltag finden.
Also erinnerte ich mich noch einmal an die Ein_ladung, da hieß es: „Wir suchen nach Wegen, positioniert zu schreiben, die eigenen Verstrickungen einzubeziehen und zu zeigen. Zu fragen, wie betrifft mich das und wohin will ich damit? unsere Texte sind Bewegungen.“. Es waren sehr spannende Anregungen und verzweigte Wege, die es mir bot und mit den dort enthaltenen Anregungen im Sinn, kann ich das Buch sehr gut empfehlen. Auch weil es immer wieder neu gelesen werden kann und ich es als gute Wegbegleitung in Bezug auf meine persönliche Auseinandersetzung mit sexualisierten Gewalterfahrungen wahrgenommen habe.

J&B

Fußnote:

* Im Jahr 2017 wurde nach langen Kämpfen um das Sexualstrafrecht eine Gesetzesveränderung vorgenommen, die aber auch im Kontext einer öffentlichen Debatte, die auf die Übergriffe Silvester 2015/16 in Köln und anderen Städten reagierte, für rassistische Stimmungsmache instrumentalisiert wurde. Die Reform des Sexualstrafrechts hat neue Tatbestände geschaffen (Strafbarkeit sexueller Angriffe aus einer Gruppe heraus) und bestehende verschärft, Einbeziehung von leichteren Straftatbeständen, „Begrabschen“, um lang beklagte Strafbarkeitslücken zu schließen. Es reicht künftig aus, dass das Opfer seinen entgegenstehenden Willen ausdrücklich verbal oder etwa durch Weinen oder Abwehrhandlungen, zum Ausdruck bringt. Eine Gewaltandrohung oder -ausübung ist nicht mehr Voraussetzung für die Strafbarkeit der übergriffigen Handlung. Auch Fälle, in denen das Opfer nicht in der Lage war, den entgegenstehenden Willen zu veräußern, kann als strafbar anerkannt werden. Zwar entspricht dies dem Versuch, der Maxime: „Nein heisst Nein“ gerecht zu werden, die in die Reform eingebaute Verschärfung des Ausweisungsrechts bleibt jedoch zu kritisieren. Für eine Einführung siehe bspw. Mädchenmannschaft: Von #NeinHeißtNein zu verschärften Ausweisungen? für mehr Details der damaligen Debatte siehe Blog von Halina Wawzyniak: Letzte Lesung Sexualstrafrecht

Rezension: Wege zum Nein

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